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Erinnerung an Adolphe Monod (1802-1856)

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Napoléon Roussel: Wie man nicht predigen sollte

Kyrill

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Nachdem er dem langweiligen Pamphilos die Leviten gelesen hat, wendet sich Napoléon Roussel einem anderen Übeltäter der Kanzel zu, und zwar dem Kyrill, dessen Spezialität es ist, die Texte der Schrift zu vergeistigen: Kyrill findet einen verborgenen Sinn hinter den biblischen Aussagen und interpretiert die Erzählungen der Schrift ganz wie es ihm gefällt.

„In seinen Augen steht der Schlamm, mit dem Jesus die Augen des Blinden eingerieben hat, für unsere Sünden; wenn der Heiland dem Volk aus einer Barke heraus spricht, weist das auf den Abstand zwischen unserer Natur und der seinen hin, usw. Dieser Methode unterworfen, verschwindet die ganze Bibel: Erzählungen, Psalmen, Propheten, Briefe, alles wird vermischt und formt ein Durcheinander, aus dem Kyrill ganz zufällig schöpft. So entstehen geistreiche Spielereien, die ebenso bunt und schön sind wie die Abbildungen eines Kaleidoskops.“

In seiner Bemühung, Kyrill zu widerlegen, betrachtet Roussel die Grundlagen der Semantik und kommt zum Schluß, daß „jede menschliche Aussage, und sei sie noch so beladen mit Bildern, so verstanden werden [muß], wie sie sich dem Geist auf Anhieb darstellt, oder anders gesagt, gemäß ihrem natürlichen Sinn“. Roussel nimmt den Einwurf vorweg, für das Wort Gottes könnten andere Gesetze gelten; er weist darauf hin, daß jede Rede „nicht auf den, der redet, sondern auf den, der zuhört“, also in unserem Fall auf den Menschen, abzielt. Wenn er von den Menschen verstanden werden will, muß Gott ihre Sprache sprechen.

Aber könnte es nicht sein, daß gleichzeitig zwei Bedeutungen gelten? Roussel bestreitet dies heftig:

„Wer das zuläßt, macht sich über Gott lustig, treibt sein Spiel mit dessen Wort und beraubt es allen Wertes, indem er ihm unbedingt größeren Wert zuordnen will. Wenn die Bibel zwei Bedeutungen haben kann, warum nicht drei, vier, fünfzig, hundert? Wo hört man auf? Wenn die ersten zehn mir nicht behagen, warum würde ich nicht eine elfte suchen? Anders gesagt, warum würde ich nicht meine eigene Bedeutung hinzufügen?“

Was man einem Rechtsanwalt oder einem Gesetzgeber verbietet, das kann einem Prediger auch nicht zugestehen:

„Gerade weil die Prediger das Vorrecht haben, das zu sagen, was sie wollen, ohne unterbrochen zu werden, darfst Du, Kyrill, nicht Mißbrauch treiben mit diesem Vorrecht; denn Gott wird Dir Rechenschaft abverlangen für das, was Deine Zuhörer gut sein lassen mußten, und eines Tags wird er Dir die Worte seines Apostels in Erinnerung rufen, nämlich daß er nicht gleichzeitig „ja“ und „nein“ sagt.“

 

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